Null Toleranz gegen Intoleranz und Extremismus

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Über aktuelle berufspolitische Entwicklungen diskutier-
ten in der Mitgliederversammlung am 20. April in Augsburg
Dr. Petra Reis-Berkowicz, Dr. Philipp Hildmann und
Dr. Wolfgang Ritter (v. li., ganz links Moderator
Torsten Fricke).

Die Delegiertenversammlung bekannte sich mit einem einstimmig verabschiedeten Leitantrag zu Demokratie, Freiheit, Toleranz und Vielfalt und lehnte jede Form von Extremismus ab: „Radikalisierung, Hass, Hetze und Fremdenfeindlichkeit haben in unseren Praxen keinen Platz. Die freiheitliche demokratische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ist für uns nicht verhandelbar”, heißt es darin.

Tags darauf stand das Thema auch auf der Tagesordnung der Mitgliederversammlung. Zu Gast war Dr. Philipp Hildmann, Geschäftsführer des Bayerischen Bündnis für Toleranz, das er als „eine Plattform, wo sich die Zivilgesellschaft, religiöse Akteure und der Staat austauschen können, um, getreu dem Slogan des Bündnisses, Demokratie und Menschenwürde zu schützen“, vorstellte. 

In den Praxen spiegeln sich die gesamtgesellschftlichen Spannungen

94 Mitgliedsorganisationen gehören dem Bündnis inzwischen an, darunter der Bayerische Hausärzteverband seit 2010 - als einziger Ärzteverband.  "Demokratie und Menschenwürde schützen - das ist es, was wir täglich in den Hausarztpraxen erleben, wofür wir einstehen”, begründete Dr. Petra Reis-Berkowicz, stellvertretende Vorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbandes, das Engagement ihres Verbandes im Bündnis: "Wir haben dort den Querschnitt der Gesellschaft von arm bis reich, von gebildet bis bildungsfern, mit und ohne Migrationshintergrund. In unseren Praxen spiegeln sich die Spannungen der Gesellschaft wider. Dort können wir wirken, können Emotionen weitergeben und Respekt und Würde des Menschen vorleben. Das ist eine große gesellschaftliche Aufgabe, gerade jetzt, wo für einen zunehmenden Teil der Bevölkerung Parteien mit offensichtlich extremistischen Aussagen, wählbar werden", erklärte sie.

Aus Sicht von Dr. Reis-Berkowicz, die in der Jury für den Herbert-Lewin-Preis sitzt, trägt die Ärzteschaft eine besondere Verantwortung. Die Auszeichnung, die das Bundesgesundheitsministerium, die Bundesärztekammer, die KBV und die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV) ausloben, wird für Arbeiten vergeben, die sich mit der Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus beschäftigen, diese aufarbeiten und sichtbar machen. Um zu verdeutlichen, um was es geht, ging Dr. Reis-Berkowicz kurz auf die beiden Preisträger von 2023 ein. 

„Man kann sich gar nicht vorstellen, was auf den 800 bis 1000 Seiten für ein Grauen stand”

In der Arbeit von Dr. med. Amir Wechsler mit dem Titel „Ich ging nur mit einem kleinen Handköfferchen aus Dortmund fort” werde mit Einzelschicksalen aus Dortmund beispielhaft dargestellt, was jüdischen Ärztinnen und Ärzten im Nazi-Deutschland widerfahren ist. Der Autor mache spürbar und nachvollziehbar, was es heißt, zunächst ausgegrenzt zu werden, dann die Zulassung und später auch die Ärztliche Approbation zu verlieren und schließlich die Doktorwürde entzogen zu bekommen – und damit auch das eigene Selbstverständnis – „denn unser Beruf ist Berufung”, so Dr. Reis-Berkowicz.  

Medizinstudent Julia Michler
Dr. Petra Reis-Berkowicz und Dr. Philipp Hildmann
 

Ähnlich erschütternd wirkte auch das Werk des zweiten Preisträgers Aaron Pfaff, der für seine Arbeit zur „Geschichte der verfassten Ärzteschaft auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Baden-Württemberg von 1920 bis 1960“ ausgezeichnet wurde. „Man kann sich gar nicht vorstellen, was auf den 800 bis 1000 Seiten für ein Grauen stand”, erinnert sich Dr. Reis-Berkowicz an die düstere Lektüre über Verstrickungen der ärztlichen Organisationen, Berufsverbände, Kammern und der Vorgängerin der KBV.

Ein Zeugnis für einen gefährlichen Gesinnungswandel

Auch werde dort deutlich, wie eine Stimmung entstehen konnte, die schließlich dazu führte, dass Angehörige eines ethischen Berufs die Umsetzung eines professionalisierten Massenmords mit ermöglichten. „Da stehen Ärzte und ihre Organisationen in ganz großer Schuld”, fasste sie zusammen.

Die Erinnerung an diese Verstrickungen und Mechanismen wachzuhalten, hält Dr. Reis-Berkowicz für essenziell. „Wenn Parolen, die von der rechsextremen Seite  - allgemein von Extremisten - in der Mitte der Gesellschaft firmieren, dann schlittern wir ganz schnell wieder in so ein Fahrwasser", mahnte sie eindringlich. "Sie glauben gar nicht, wie schnell Tausende von Leuten gleichgeschaltet sind, gleich denken", mahnte sie mit Blick auf die Arbeiten über die NS-Zeit. "Und dann geht das Grauen wieder von vorne los, das ist meine große Angst. Und dagegen engagiere ich mich, auch wenn es viel Kraft kostet."

Der Landesvorsitzende des Bayerischen Hausärzteverbandes Dr. Wolfgang Ritter teilt die Befürchtungen, dass sich die Geschichte wiederholen könnte und berichtete von seinem Schlüsselerlebnis. Bei dem Besuch eines Bundestagsabgeordneten habe er das Verhalten der AFD-Fraktion im Bundestag hautnah miterleben können.

"AFD bringt Dinge in die Mitte unserer Wohnzimmer, die für Jahrzehnte undenkbar waren"

Medizinstudent Julia Michler
Flagge zeigen für die Demokratie ist wichtig, sind sich
Dr. Philipp Hildmann und Dr. Wolfgang Ritter (v.L.) einig. 

Für ihn wurde klar: “Wir müssen als Zivilgesellschaft aufstehen und Flagge bekennen, denn die die Politik scheint die Brandmauer gegen Rechtsextremismus nicht hinzubekommen. Wir sind alle gefordert als Teil dieser Demokratie, als Teil dieser Gesellschaft, die solidarisch ist die einsteht für die Schwachen, aufzustehen und uns zu Demokratie und Vielfalt zu bekennen!”

Dem konnte Dr. Hildmann nur zustimmen. “Ich glaube tatsächlich, dass wir in diesen Tagen etwas erleben, das uns unglaublich wachsam machen muss. Wie wollen wir in Zukunft  leben, wem geben wir Macht, über unser Leben zu entscheiden, um diese Fragen gehe es bei den anstehenden  Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg, und auch bei der Europawahl. Die AFD nutze ihren wachsenden Einfluss, um die Grenze vom Sagbaren zum Unsäglichen zu verschieben. "Sie bringt Dinge in die Mitte unserer Wohnzimmer, die für Jahrzehnte undenkbar waren."

Geschlossener Einsatz aller Demokratinnen und Demokraten gegen rechtsextreme Flanken

Vor diesem Hintergrund brauche es den geschlossenen Einsatz aller Demokratinnen und Demokraten gegen rechtsextreme Flanken - “auch eine starke demokratisch legitimierte konservative Kraft”, betonte er. “Wenn von der Bühne aus Akteure die anwesende Polizei niedermachen” wie bei einer Großkundgebung in München geschehen, “wenn man die Ampel-Regierung als neofaschistisch schmäht und die anwesenden Unionspolitiker als Neonazis beschimpft, dann läuft etwas schief”, stellte er fest.

Das Bayerische Bündnis für Toleranz wirke gegen Extremismus nach innen und nach außen, betonte er die Bedeutung des Zusammenschlusses. "Wer Mitglied wird im Bayerischen Bündnis für Toleranz, der geht eine Selbstverpflichtung ein, wachsam zu sein, die Augen nicht zu verschließen und sich dem Ganzen zu stellen.  Nach Außen wirken wir gemeinsam mit verschiedenen Aktionen, Kongressen und mit Publikationen, um Demokratie und Menschenwürde schützen, wie es im Untertitel zu unserem Namen steht. Und wir sind dankbar, Sie an unserer Seite zu haben", sagte er den versammelten Hausärztinnen und Hausärzten und verwies auf das gemeinsame Projekt der Plakataktion "Unser Herz schlägt nicht rechtsextrem". "Als Bündnis für Toleranz hoffen wir natürlich, dass Sie dieses Plakat auch zahlreich in den Praxen aufhängen."

Eine Frage des Rechts: Wenn es in der Hausarztpraxis richtig ist, rote Linien zu ziehen und klar Kante zu zeigen

Medizinstudent Julia Michler
Wo für sie rote Linien liegen, erklärte Dr. Reis-Berkowicz.

Zum Schutz der hohen Werte sei es notwendig, rote Linien zu ziehen und Kante zu zeigen, betonte Dr. Reis-Berkowicz. "Toleranz braucht Haltung, und um Haltung zu zeigen, braucht man manchmal Intoleranz, nämlich dann, wenn es um Angriffe auf die Menschenwürde geht, um unsere freiheitliche Grundordnung, unser Demokratieverständnis, die Freiheit der Wissenschaft, die Gleichberechtigung Mann – Frau oder auch das Gewaltmonopol für den Staat, denn das kann nur der Staat in unserem Auftrag übernehmen - das ist für mich die rote Linie, wo ich sage: Jetzt bin ich super intolerant", führte sie aus. Das gelte auch für ihre Patientinnen und Patienten. "Wenn diese rote Linie überschritten wird,  habe ich das Recht zu sagen, 'such dir jemand anderen, ich habe kein Vertrauen zu dir', denn das ist eine Arbeitsgrundlage. Nicht nur der Patient muss Vertrauen zu mir haben, auch ich zum Patienten, und es ist mein gutes Recht, hier eine rote Linie aufzuzeigen", sagte sie unter großem Beifall.

Aus dem Publikum ergänzte Dr. Jürgen Büttner, HZV-Vorstandsbeauftragter des Bayerischen Hausärzteverbandes: “Ich hab Respekt vor dem Patienten, aber ich erwarte auch Respekt mir gegenüber von Patienten. Wenn unsere MA schräg angequatscht oder beschimpft werden, hört für mich die Toleranz auf. Es ist unser gutes Recht, in unseren Arztpraxen Respekt einzufordern und dann auch mal zu sagen: Bitte, da ist die Tür”, unterstrich er und lobte seine Kollegin auf der Bühne: “Petra, du machst einen tollen Job, pass auf dich auf.”

Hate-Speech ist kriminell

Was aber tun, wenn Ärztinnen und Ärzte dafür einen "Shitstorm" in den sozialen Medien kassieren? "Das muss man nicht hinnehmen", erklärte Dr. Hildmann und riet dazu, sich an eine Plattform wie beispielsweise die “Meldestelle Respect” zu wenden. “Über diese Plattform sind in den zweieinhalb Jahren ihres Bestehens  57.000 Fälle angezeigt und 17.000 Gerichtsverfahren eingeleitet worden, Das zeigt: Man kann sich wehren, Hate-Speech ist kriminell”, stellte er fest.

Aktuell wendet sich das Bayerische Bündnis für Toleranz mit einer Youtube-Kampagne gegen Hate-Speech unter dem Hashtag "zu wertvoll für Hass". In kurzen Videos kämen Betroffene zu Wort, die berichten, was mit ihnen passiert ist und was das mit ihnen gemacht hat. Dann folgt, wie man sich wehren kann.

"Politische Bildung ist keine Feuerwehr - wenns brennt, ist es zu spät"

Vor dem Hintergrund der Verrohung von Sprache in der Anonymität sozialer Medien, die mehr und mehr auch Eingang ins wirkliche Leben findet, forderte Dr. Ritter eine gesellschaftspolitische Diskussion ein darüber, "wo unser moralischer Kontext als Gesellschaft überhaupt ist. Wir müssen gesellschaftlich in die Diskussion kommen, wie wollen wir miteinander leben, was bedeutet Respekt, was sich schämen, aber auch stolz sein, das würde ich mir wünschen", sagte er.

"Das kann ich nur unterstreichen”, pflichtete Dr. Hildmann ihm bei, gab aber zu bedenken: “Politische Bildung ist keine Feuerwehr. Wenn‘s brennt, ist es zu spät. Wir müssen dafür sorgen, dass wir einen langen Atem haben. Das fängt bei Kindern an, wir müssen unseren Nachwuchs resilient machen. Dass geht nicht mit einem Seminar an einem Wochenende”, erklärte er und sieht auch den Staat gefordert, die nötigen finanziellen Strukturen zu schaffen, um eine resiliente Gesellschaft wiederherzustellen.

 

 

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